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“Wir sind am Limit – und dar­über hinaus”

Wie in einer Pra­ger Fabrik das Schmerz­mit­tel Met­ami­zol pro­du­ziert wird

Eng­päs­se bedro­hen die Sicher­heit unse­rer Arz­nei­mit­tel­ver­sor­gung. Vie­le Her­stel­ler haben sich aus der Pro­duk­ti­on zurück­ge­zo­gen. In Prag steht eine der letz­ten euro­päi­schen Fabri­ken, in denen das Schmerz­mit­tel Met­ami­zol noch pro­du­ziert wird. Ein Besuch im Werk des Gene­ri­ka-Her­stel­lers Zentiva.

Sand. Sand könn­te die Lösung für Haus Num­mer 204 sein. Das Gebäu­de im Indus­trie­park kurz vor Prag ist eines der wich­tigs­ten im Werk von Zen­ti­va. Unun­ter­bro­chen läuft die Pro­duk­ti­on hier. Sie braucht Ener­gie, rund um die Uhr – aber das ist gera­de nicht ganz so einfach. 

Damit Ener­gie auch nachts nach­hal­tig gelie­fert wer­den kann, denkt man bei Zen­ti­va zusam­men mit Pra­ger Uni­ver­si­tä­ten über neue Ener­gie­spei­cher­sys­te­me nach. „Sand auf­zu­hei­zen, ihn als Spei­cher­me­di­um zu nut­zen, um dann die Ener­gie abzu­ge­ben, könn­te ein Mit­tel sein“, sagt Stand­ort­lei­ter Dr. André Rid­der. Die Pro­duk­ti­vi­tät lie­ße sich auf die­se Wei­se noch ein­mal stei­gern. Doch dafür braucht es noch Zeit, For­schung und vor allem: Planungssicherheit.

Mehr Leu­te müs­sen her

Solan­ge sie das nicht haben, müs­sen Rid­der und sein Team auf ande­re Wei­se ihren Out­put erhö­hen. Der­zeit arbei­ten in Prag 850 Men­schen. Bis Ende die­ses Jah­res sol­len 50 hin­zu­kom­men. Pro Met­ami­zol-Schicht sind dann 28 von ihnen im 24-Stun­den-Betrieb im Ein­satz – an sie­ben Tagen in der Woche. Eine der Auf­ga­ben für Haus 204: Die Roh­stof­fe wie­gen, aus denen das Arz­nei­mit­tel besteht, das Mil­lio­nen von Men­schen in Deutsch­land drin­gend benötigen.

Am Fließ­band: Die Met­ami­zol-Pro­duk­ti­on am Zen­ti­va-Stand­ort Prag läuft auf Hochtouren.

Die Bän­der lau­fen nonstop

Es ist hell in den Pro­duk­ti­ons­räu­men, son­nen­durch­flu­tet. Wer hier arbei­tet, trägt Mund­schutz. Denn die kleins­te Ver­un­rei­ni­gung kann bedeu­ten, dass man gesam­te Char­gen weg­wer­fen muss. Ein biss­chen sieht es hier aus wie in einem Labor. Ohne Unter­lass lau­fen die Bän­der. Maschi­nen rat­tern und es kla­ckert lei­se, wäh­rend Met­ami­zol-Fläsch­chen als ste­ti­ger Strom über die Bän­der rauschen. 

Im Lager sta­peln sich die ver­sand­fer­ti­gen Kar­tons. Dank der neu­en Mit­ar­bei­ten­den kann man hier bald noch mehr pro­du­zie­ren. Doch ob das reicht, um alle Patient:innen zu ver­sor­gen, kann nie­mand sagen. Die Gefahr von Eng­päs­sen schwebt auch über dem Werk in Prag – und ist eine Fol­ge des Kos­ten­drucks, unter dem vie­le Gene­ri­ka-Her­stel­ler produzieren.

Reicht das Met­ami­zol für alle?

Met­ami­zol ist ein Schmerz­mit­tel, das vor allem in Kran­ken­häu­sern zum Ein­satz kommt. Krebspatient:innen erhal­ten es gegen Tumor-Schmer­zen. Und zwei Drit­tel aller Patient:innen erhal­ten es nach einer Ope­ra­ti­on. Im Jahr 2022 wur­den für GKV-Ver­si­cher­te ins­ge­samt 272 Mil­lio­nen Tages­do­sen ver­ord­net – davon 82,6 Mil­lio­nen in Form von Tropfen. 

„Deutsch­land ist ein Gene­ri­ka-Markt“, sagt Josip Mestro­vic, Gene­ral Mana­ger von Zen­ti­va. „Acht von zehn Patient:innen bekom­men eine gene­ri­sche Packung ver­ord­net.“ Dabei ent­fie­len gera­de ein­mal 7,1 Pro­zent der gesam­ten Arz­nei­mit­tel­aus­ga­ben der Kran­ken­kas­sen auf die Her­stel­ler von Gene­ri­ka. „Da fehlt die Balan­ce“, so Mestro­vic. „Mit 7,1 Pro­zent der Kos­ten kann man nicht 80 Pro­zent der Bevöl­ke­rung mit Medi­ka­men­ten versorgen.“ 

Mestro­vic wun­dert es nicht, dass in den letz­ten Jah­ren immer mehr Unter­neh­men aus dem Markt aus­ge­stie­gen sind und es immer wie­der zu Ver­sor­gungs­eng­päs­sen bei Medi­ka­men­ten kommt. Zwar betont er, dass man ins­be­son­de­re die Pro­duk­ti­on von lebens­ret­ten­den Medi­ka­men­ten aus ethi­scher Ver­ant­wor­tung her­aus schwer­lich ein­stel­len kön­ne. Gleich­zei­tig macht er klar, dass man in vie­len Berei­chen schlicht nicht mehr kos­ten­de­ckend pro­du­zie­ren kön­ne. „Wir wol­len die Men­schen mit Arz­nei­mit­teln ver­sor­gen und sind dabei doch auch ein Wirt­schafts­un­ter­neh­men“, sagt Mestrovic.

Im Kampf für die Arz­nei­mit­tel­ver­sor­gung: Gene­ral Mana­ger Josip Mestro­vic im Zen­ti­va-Lager in Prag.

Wegen der gerin­gen Erstat­tungs­prei­se kauft Zen­ti­va den Wirk­stoff für Met­ami­zol längst in Chi­na ein. Dass man wei­ter­hin die Lager­hal­len mit Medi­ka­men­ten bis unters Dach bestückt hat, erklärt sich auch durch die Qua­si-Mono­pol­stel­lung des Unter­neh­mens. Bei Met­ami­zol hat Zen­ti­va in Deutsch­land einen Markt­an­teil von rund 75 Pro­zent. Außer ihnen gibt es bloß noch einen wei­te­ren Pro­du­zen­ten, der in nen­nens­wer­tem Umfang das Schmerz­mit­tel pro­du­ziert. Die ande­ren Anbie­ter haben nur win­zi­ge Markt­an­tei­le. „Für die meis­ten Her­stel­ler lohnt sich die Pro­duk­ti­on von Met­ami­zol schlicht und ergrei­fend nicht mehr“, weiß Mestrovic.

Die Prei­se sind schlicht zu niedrig

Die Grün­de dafür kennt Ulri­ke Holz­gra­be gut. Die Seni­or­pro­fes­so­rin für phar­ma­zeu­ti­sche und medi­zi­ni­sche Che­mie an der Uni Würz­burg erklärt: „Wir haben 2009 ein Arz­nei­mit­tel­ge­setz bekom­men, in dem Fest­be­trä­ge für die Kos­ten eines Gene­ri­kums fest­ge­legt wor­den sind. Die­se Beträ­ge sind seit­dem nicht erhöht wor­den, obwohl die Pro­duk­ti­ons­kos­ten immer mehr gestie­gen sind.“ 

In der Pra­xis sieht das dann so aus: Das Pra­ger Werk von Zen­ti­va pro­du­ziert rund fünf Mil­lio­nen Fla­schen an flüs­si­gem Met­ami­zol zu je 1,27 Euro pro 20-Mil­li­li­ter-Fla­sche. So hoch ist der Fest­be­trag – also das, was die Kran­ken­kas­sen dem Her­stel­ler für sein Arz­nei­mit­tel erstat­ten. Von die­sem Betrag gehen aller­dings noch Rabat­te ab, die die Her­stel­ler den Kran­ken­kas­sen gewäh­ren. So schreibt etwa die AOK als die größ­te Kran­ken­kas­se Deutsch­lands den Bedarf für den ambu­lan­ten Markt exklu­siv aus. Das heißt: Sie beauf­tragt allein das Unter­neh­men mit der Pro­duk­ti­on von Met­ami­zol, das ihr den höchs­ten Rabatt anbietet.

Was, wenn man die Aus­schrei­bung nicht gewinnt?

Ob Zen­ti­va den nächs­ten Rabatt­ver­trag ab Febru­ar 2024 mit zwei Mil­lio­nen Fla­schen gewin­nen wird, weiß der­zeit nie­mand. Und auch nicht, was man dort im Zwei­fel mit den Fla­schen macht, die bis dahin mög­li­cher­wei­se umsonst pro­du­ziert wur­den. So viel aber weiß man: Inves­tiert wer­den kann erst ein­mal gar nichts. Weder in Sand noch in neue Abfüll­ein­hei­ten, die den Out­put noch ein­mal erhö­hen könn­ten. Dazu ist der Pla­nungs­ho­ri­zont durch die Rabatt­ver­trä­ge viel zu kurz.

Als Zen­ti­va das Arz­nei­mit­tel 2005 in Deutsch­land ein­führ­te, sahen die Rah­men­be­din­gun­gen noch anders aus. Es gab noch kei­ne Rabatt­ver­trä­ge, nicht die­sen Preis­druck, von Krieg in Euro­pa, Infla­ti­on und Ener­gie­kri­se ganz zu schwei­gen. „Man muss sich nur mal vor­stel­len, was wäre, wenn es die­ses Schmerz­mit­tel nicht mehr gäbe“, sagt Mestro­vic. Die Fol­gen für die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung wären kata­stro­phal. „Man kann bei Medi­ka­men­ten nicht, wie etwa in der Bau- oder Auto­in­dus­trie, sagen: Dann kommt es halt spä­ter“, sagt Mestro­vic. Die Betrof­fe­nen brau­chen das Medi­ka­ment – wer möch­te ihnen erklä­ren, dass es gera­de Lie­fer­schwie­rig­kei­ten gibt? 

Ohne Unter­lass kla­ckern die Fla­schen, die über die Bän­der rauschen

Die Abhän­gig­keit ist riesig

Ein Pro­blem sind auch die Lie­fer­ket­ten. Ver­schie­de­ne Roh- und Ver­pa­ckungs­ma­te­ria­li­en wie bei­spiels­wei­se Alu­mi­ni­um­fo­lie wer­den knapper. 

Die Grün­de dafür kennt Wis­sen­schaft­le­rin Ulri­ke Holz­gra­be: „Wir haben nicht nur das Pro­blem, dass wir Zwi­schen­pro­duk­te und Reagen­zi­en in Chi­na kau­fen müs­sen. Wir haben eine gan­ze Men­ge an che­mi­scher Indus­trie in Deutsch­land ver­lo­ren. Die Halo­gen­che­mie bei­spiels­wei­se, die sich damit beschäf­tigt, wie man ein Flu­or- oder Chlor-Ele­ment an ein Mole­kül bekommt, machen wir hier­zu­lan­de nicht mehr, weil es die Umwelt belas­tet“, sagt Holz­gra­be. Die Pro­duk­ti­on ande­rer Sub­stan­zen sei ein­ge­stellt wor­den, weil es schlicht zu teu­er sei. Das las­se sich viel­leicht wirt­schaft­lich nach­voll­zie­hen, aber damit bege­be man sich in eine gefähr­li­che Abhän­gig­keit. Die Fol­gen, wenn es kurz­fris­tig auf­grund eines poli­ti­schen Kon­flik­tes zu einem Lie­fer­stopp käme, wären für das deut­sche Gesund­heits­sys­tem verheerend.

Pro­duk­ti­on in Euro­pa statt in Asi­en: der Zen­ti­va-Stand­ort Prag.

Nur eine Opti­on: weitermachen

Wie fra­gil das Sys­tem ist, sah man bereits in den ver­gan­ge­nen Mona­ten, als zuerst Fie­ber­säf­te für Kin­der und spä­ter Anti­bio­ti­ka knapp wur­den. Zwar nahm sich die Poli­tik des Pro­blems an und ver­ab­schie­de­te das Arz­nei­mit­tel-Lie­fer­eng­pass­be­kämp­fungs- und Ver­sor­gungs­ver­bes­se­rungs­ge­setz (ALBVVG). Doch lei­der wur­den nur par­ti­ell Lösun­gen erar­bei­tet und Patient:innen, die für ihre The­ra­pie Schmerz­mit­tel – häu­fig Gene­ri­ka wie Met­ami­zol – benö­ti­gen, pro­fi­tie­ren über­haupt nicht von dem Gesetz.

Anstatt sich zu freu­en, beob­ach­tet Zen­ti­va-Chef Josip Mestro­vic sei­ne stei­gen­den Markt­an­tei­le mit gro­ßer Sor­ge. „Das ist kein gutes Zei­chen für Deutsch­land“, sagt er. Denn die letz­ten ver­blie­be­nen Unter­neh­men könn­ten nicht die gesamt­deut­sche Bevöl­ke­rung mit Arz­nei­mit­teln ver­sor­gen – egal wie vie­le neue Mit­ar­bei­ter gefun­den wer­den, egal in wie viel neue Tech­no­lo­gie trotz der unsi­che­ren Lage inves­tiert wer­den kann, und egal ob Sand in naher Zukunft Ener­gie spei­chern kann oder nicht. 

Im Haus Num­mer 204 stellt Mestro­vic eine Fra­ge, die er zugleich selbst – mit ruhi­ger, aber war­nen­der Stim­me – beant­wor­tet. „Kön­nen wir Arz­nei­mit­tel­si­cher­heit in den nächs­ten fünf Jah­ren gewähr­leis­ten? Wir tun alles dafür, aber ich wür­de mei­ne Hand – Stand heu­te – dafür nicht ins Feu­er legen.“

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Wie ein Früh­warn­sys­tem Eng­päs­se nicht nur erken­nen – son­dern ihnen auch vor­beu­gen kann

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