Lieferengpässe sind in immer mehr Branchen ein Thema. Bei Arzneimitteln ist das Problem nicht neu. Aber so drängend, dass es sich die neue Bundesregierung jetzt vornehmen muss – für mehr Versorgungssicherheit in Deutschland.
Unser Thema beim “Dialog am Mittag”
Wo sehen Apotheker:innen die drängendste Aufgabe? Welche Ideen haben die Krankenkassen? Was brauchen Generikahersteller, um die Versorgung stabilisieren zu können? Und wie kann die Politik sinnvoll eingreifen? Das fragten wir die Akteur:innen der Arzneimittel-Versorgung!
Mit Moderatorin Rebecca Beerheide (Deutsches Ärzteblatt) diskutierten am 24.11.2021 Anne-Kathrin Klemm, (Abteilungsleiterin Politik und Kommunikation, BKK Dachverband), Thomas Müller (Leiter Abteilung 1, Bundesministerium für Gesundheit) Gabriele Regina Overwiening (Präsidentin ABDA) und Andreas Burkhardt, Vorstand Pro Generika, General Manager Teva Deutschland & Österreich.
Andreas Burkhardt: So hängen Kostendruck und Versorgungssicherheit zusammen
An einem aktuellen Beispiel machte Andreas Burkhardt die Problematik von Lieferengpässen deutlich. Für Vincristin – ein Wirkstoff, der etwa zur Behandlung unterschiedlicher Lymphome eingesetzt wird – hatte es jüngst einen Engpass gegeben, der mittelfristig wiederauftauchen könnte. Burkhardt nannte den Grund: „Der bisherige Wirkstofflieferant stellte die Produktion ein, da diese aufgrund der Komplexität und der geringen Marge nicht mehr rentabel war.“ Eine Entscheidung, die für die Patient:innen fatal werden kann, denn das Arzneimittel ist in der Therapie nicht durch ein anderes ersetzbar.
Der Vincristin-Engpass, so Burkhardt, sei symptomatisch für verschiedene Wirkstoffe, die zwar medizinisch notwendig seien, deren Produktion aber hochkomplex und unrentabel sei. Dieser Umstand führe sowohl zu einer erheblichen Marktverengung auf Ebene der Wirkstoffhersteller als auch auf der der Fertigarzneimittelhersteller.
„Dieses Spannungsfeld Ökonomie versus medizinische Notwendigkeit wird nicht sauber gespielt. Es gibt eine Preisregulation – keinen freien Markt, in dem Angebot und Nachfrage den Preis regeln. Der Preis ist festgelegt – unabhängig davon, wie viele Anbieter es auf dem Markt gibt. Die Anbieter werden in der Folge immer weniger. Am Ende sind nur noch zwei übrig“, erläutert Burkhardt.
Mehr Versorgungssicherheit durch mehr „Made in Europa“?
Abseits von der Benennung versorgungskritischer Wirkstoffe, die wieder in der EU hergestellt werden sollen, fehle es bislang an konkreten Maßnahmen, wie die Produktion gestärkt werden könne. „Bei den Unternehmen ist faktisch bisher nichts angekommen“, so Burkhardt. Es werde zwar über Anreizsysteme wie etwa Subventionen für mehr Produktion in Europa debattiert – aber nicht mit den Unternehmen selbst.
Das Beispiel Sandoz im österreichischen Kundl, die mit finanzieller Unterstützung aus öffentlichen Mitteln, die heimische Penicillin-Produktion für mehrere Jahre sicherstellt, zeige etwa, das zugesicherte Abnahmemengen und staatliche Investitionen Planungssicherheit für die Hersteller gewährleisten können, führte Burkhardt aus.
Thomas Müller: Es braucht andere Vergabekriterien als nur den Preis
Das wollte Herr Müller so nicht stehen lassen. Er betonte, dass Lieferengpässe politisch schon länger ein Thema seien. Noch-Gesundheitsminister Jens Spahn habe das Thema Versorgungssicherheit während der EU-Ratspräsidentschaft 2020 in den Fokus gerückt. „Es ist im Grundsatz ein europäisches Problem“, so Müller. Denn versorgungskritische Wirkstoffe wie Vincristin brauche nicht nur Deutschland, sondern die gesamte EU. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, habe Deutschland verschiedene Vorschläge gemacht: die Transparenz der Herstellungsketten als Grundlage für Beschaffungsentscheidungen, die Verbesserung der Regulatorik, die Schaffung von Anreizen zur Diversifizierung, indem etwa Europa als Produktionsstandort infrage kommt, und die Etablierung von Investitionsanreizen für Produktionsstandorte.
Für die kommende Legislatur-Periode schlug Müller vor, die Preisgestaltung der patentierten und hochpreisigen Medikamente unter die Lupe zu nehmen, die deutlich höhere Margen aufweisen als Generika. Zugleich führte er an, dass es in den Rabattverträgen weitere Zuschlagskriterien brauche, als nur den günstigsten Preis. Müller: „Wir brauchen für existenzielle Versorgungsbereiche wie Arzneimittel Ergänzungen im Vergaberecht. Diese sollen es den Kassen ermöglichen, Dinge wie Ökologie und Versorgungssicherheit mit zu berücksichtigen. Das ist ein dickes Brett.”
Gabriele Regina Overwiening: Gelockerte Abgaberegeln müssen bleiben
Die Tatsache, dass die Zahl der Lieferengpässe in diesem Jahr zwar ähnlich hoch wie im vergangenen gewesen, das Handling damit aber einfacher geworden sei, hängt nach Ansicht von Overwiening mit der SARS-CoV-2- Arzneimittelversorgungsverordnung zusammen. Sie ermöglicht Apotheken mehr “Beinfreiheit”, sprich: eine Lockerung der Abgaberegeln bei rabattierten Arzneimitteln. Gleichzeitig unterstrich Overwiening: “85 bis 90 Prozent der Apotheker:innen bezeichen Lieferengpässe als das größte Ärgernis im Berufsalltag — das sind viel mehr als noch vor zehn Jahren!”
Overwiening sprach sich dafür aus, diese Lockerung auch nach der Corona-Pandemie beizubehalten. Man habe seitens der Apotheken die „Beinfreiheit“ und die Entscheidungshoheiten sinnvoll genutzt. Ein Forderung, die in Erfüllung gehen könnte. Zumindest kündigte Müller Gespräche darüber für die erste Jahreshälfte 2022 an.
Versorgungssicherheit liege, so Overwienings Einschätzung, indes klar in der Verantwortung der Politik: „Wenn die Politik erwartet, dass Apotheken eine gute und verantwortungsvolle Versorgung hinkriegen, dann muss die Politik auch ein Erwartungsmanagement erzeugen, dass eine gute und verlässliche Versorgung etwas kosten darf.“
Wenn durch festgelegte Preise, also die Produktion einzelner Arzneimittel, nicht mehr möglich ist, muss dafür auch die Verantwortung übernommen und darf nicht abgeschoben werden.
Sie appellierte an alle Beteiligten, Arzneimittel nicht zu trivialisieren: „ Es heißt: Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts. Deshalb darf Gesundheit auch etwas kosten“
Anne-Kathrin Klemm: EU-Produktion nicht aus dem GKV-Fond finanzieren
Anne-Kathrin Klemm wies darauf hin, dass man zwischen Liefer- und Versorgungsengpässen unterscheiden müsse. Das habe man bislang ganz gut geschafft. Gleichzeitig warb sie um Verständnis für die Haltung der Krankenkassen. Diese wollten natürlich Geld sparen, um den Zusatzbeitrag so gering wie möglich zu halten.
Klemm zeigte sich offen dafür, im Vergabesystem neben dem Preis auch Faktoren wie Umweltstandards und resiliente Lieferketten in den Fokus zu nehmen. Damit könnte die Krankenkassen auch im Wettbewerb punkten — was sie aktuell nicht dürften.
Außerdem sprach sie über die Finanzierung einer Re-Lokalisierung der Arzneimittelproduktion: „Und wenn die Produktion nach Europa geholt wird, dann wäre mein Wunsch, die Finanzierung bitte aus Steuer- oder EU-Geldern, nicht aus dem großen GKV-Fond.“