Gefährliche Abhängigkeit von China — Experten mahnen zum Handeln!
Die Abhängigkeit von russischem Gas hat Deutschland in eine Energiekrise geführt, deren Ausmaß derzeit noch nicht absehbar ist. In dem Wunsch, Gas so günstig wie möglich zu beziehen, haben es Politik und Wirtschaft in Deutschland weitestgehend versäumt, die Versorgung zu diversifizieren und somit krisenfest zu machen. Droht eine ähnliche Entwicklung auch bei lebenswichtigen Arzneimitteln? Das war die Frage, die unsere Experten bei unserem Podiumstalk am 23. November 2022 diskutierten.
Wie hoch ist die Abhängigkeit von China?
Die Lage sei ernst, die geopolitischen und wirtschaftspolitischen Risiken seien in den letzten Jahren massiv gewachsen. Deshalb rief Dr. Tim Rühlig, Research Fellow im Programm Technologie und Außenpolitik der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, zum Umdenken auf.
Eine militärische Auseinandersetzung Chinas mit Taiwan sei nicht unwahrscheinlich und könne schneller kommen, also viele in Deutschland derzeit glaubten. Eine Reduzierung der eigenen Abhängigkeit von der Volksrepublik sei deshalb politisch geboten – vor allem durch mehr Diversifizierung und eine größere unternehmerische Risikostreuung.
Dabei sei sich China seinerseits sehr wohl bewusst, von Europa abhängig zu sein. Derzeit versuche die Volksrepublik, Abhängigkeiten zu reduzieren – auch weil man genau erkannt hätte, dass technologische und wirtschaftliche Abhängigkeiten sich im Falle eines wirtschaftlichen Konfliktes gegen einen wenden könnten.
Bei Arzneimitteln stellte Rühlig eine kritische Abhängigkeit fest.
Warum muss auch die Politik handeln?
Mehr Unabhängigkeit von der Volksrepublik forderte auch Jürgen Salz, Redakteur bei der Wirtschaftswoche. Trotz Globalisierung müsse man stets im Blick behalten, in welchen Industrien man sich zu abhängig mache. In der Pharmabranche fände er das Szenario bedenklich bis bedrohlich. Salz verglich die starke Abhängigkeit von China bei Wirkstoffen mit der Abhängigkeit von Russlands Erdgas: Die Abhängigkeit von 55 Prozent Erdgas erinnere ihn an die 60 Prozent der Wirkstoffe, die Deutschland aus China beziehe. Daraus ergebe sich an die Unternehmen die Forderung nach mehr Diversifizierung. Zugleich leite sich ein Handlungsauftrag für die Politik ab.
Das Thema sei seit fast drei Jahren bekannt, passiert sei nichts bis wenig. Es könne nicht sein, dass wir die gleichen Fehler nochmal machten – und uns nach dem russischen Gas in die nächste Abhängigkeit begäben.
Wolle man mehr Unabhängigkeit von China, sei, so Salz, ein Blick auf die Kosten unerlässlich: „Man wird in Europa nicht zu den Kosten wie in China produzieren können. An der Stelle muss man sich ehrlich machen und sagen: Wenn wir Maßnahmen ergreifen und ggf. Produktion zurückholen wollen, heißt das übersetzt auch höhere Arzneimittelpreise.“ Salz sprach auch das Thema Subventionierung an: Es gäbe in Frankreich und Österreich Förderungen, um Produktion von Antibiotika und Paracetamol wiederaufzubauen. Hier nahm Salz die Politik in die Verantwortung – verwies aber auch auf die Unternehmen: „Bei den Unternehmen habe ich den Eindruck, dass die gute alte Tradition der Risikostreuung und Minimierung abhandengekommen ist“.
Was sind die Ursachen für die Abwanderung nach China?
Der Kostendruck sei einer der Gründe, warum sich die Produktion in den letzten Jahren nach Fernost verlagert habe, sagte Peter Stenico, Vorstandsvorsitzender von Pro Generika. Ein anderer seien gezielte Maßnahmen des chinesischen Staates, die Arzneimittelproduktion auszubauen.
Natürlich wüssten die Unternehmen, dass es besser sei, bei einem Produkt nicht von einem einzigen Lieferanten abhängig zu sein, sondern auf zwei oder drei zurückgreifen zu können. Das System lasse Diversifizierung aber teilweise gar nicht zu.
Das könne man nur ändern, wenn man davon abkomme, dass der Preis das Einzige sei, was zähle: „Gesundheit muss einem wieder etwas wert sein“, appellierte Stenico.
Für eine stärkere Diversifizierung sei eine Abkehr von dieser Maxime notwendig – und mehr Panik im System: „Wenn sich die chinesische Haltung gegenüber Taiwan ändert, wird sehr schnell Panik in das System kommen.“ Die Abhängigkeiten von China bei verschiedenen Lieferketten würde uns dann schnell bewusst werden, so Stenico.
Wie geht mehr Produktion in Europa?
Dr. Kai Rossen, Vorstand und Chief Scientific Officer des Wirkstoffherstellers EUROAPI betonte, dass die Lage nicht hoffnungslos sei: Mehr Produktion in Europa sei möglich. Und zwar in deutlich größerem Ausmaß, als es derzeit der Fall sei.
Dr. Kai Rossen ergänzte, dass neben dem Preis auch bei den Themen Innovation und Verbesserung der Verfahren in Richtung Energie, Abwasser, Green Chemistry Fortschritte gemacht werden müssen. Diese Dinge könnten nicht alleine aus einem Unternehmen getragen werden. Denn die Herstellung von generischen Wirkstoffen seien nicht das gleiche hohe Margengeschäft wie die Herstellung von einem patentgeschützten Wirkstoff, wo dann wirklich viel Geld verdient würde, so Rossen: „Bei der Herstellung von generischen Wirkstoffen reden wir über ganz andere Margen.“
Nur mit staatlicher Unterstützung für Innovation könne man mittelfristig wieder für Wettbewerbsfähigkeit sorgen.
Aufwachprozess oder kurz vor zwölf?
Jürgen Salz betitelte die aktuelle Situation als „Aufwachprozess“. Der „Russlandschock“ sitze tief, sagte Salz und meinte die Erkenntnis, abhängig von einem Unrechtsstaat zu sein.
Dr. Tim Rühlig fasste die politischen Erfordernisse der Zeit in drei Punkten zusammen. Man müsse unabhängig werden von russischer Energie, die Abhängigkeit von US-amerikanischen Sicherheitsgarantien reduzieren und sich unabhängiger machen von chinesischer Technologie.
Für Dr. Kai Rossen braucht es dafür politische Leadership. „Es erfordert eine konzertierte Aktion westlicher Länder zu überlegen, wie man aus diesem Problem herauskommt“, so Rossen. Dies zu leisten sei Aufgabe der Politik.
Peter Stenico pflichtete bei: „Wir sind in einer Aufwachphase – und müssen diese Aufwachphase jetzt beschleunigen, wir können nicht mehr warten. Es ist mehr als fünf vor 12.” Speziell in der Pandemie habe die Industrie Leadership bewiesen und nicht aufgegeben. „Wir müssen die Politik jetzt noch anstacheln, damit konkret etwas passiert“, schließt Stenico.
Jürgen Salz drückte dabei aufs Tempo: „Da müssen sowohl Unternehmen als auch die Politik schnell in die Pötte kommen.“ Um die Dringlichkeit zu untermauern, zitierte er die Pharmazieprofessorin Dr. Ulrike Holzgrabe von der Uni Würzburg: „Die Chinesen brauchen keine Atombombe mehr – es reicht, wenn sie keine Antibiotika mehr liefern.“
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