Seit Monaten werden immer wieder Antibiotika knapp. Sie fehlen im Kampf gegen Infektionen, sie fehlen in Krankenhäusern und sie fehlen bei der Behandlung von Kindern.
Was die Hersteller gegen die Engpässe bei Arzneimitteln tun, was jetzt geschehen muss und wann mit einer Entspannung der Lage zu rechnen ist, lesen Sier hier.
Die wichtigsten Fragen und Antworten zur aktuellen Arzneimittel-Knappheit
Warum kommt es gerade jetzt zu Engpässen bei Antibiotika?
Die starke Infektionswelle im vergangenen Winter mit einem massiv verstärkten Aufkommen von viralen Infektionen und Bakterieninfektionen der Atemwege hat die Versorgung mit den betreffenden Arzneimitteln schwer strapaziert. Für einzelne Arzneimittel war die Nachfrage in einem Quartal so hoch wie vor der Pandemie in einem ganzen Jahr. Auch im 1. Quartal 2023 verzeichneten die Hersteller noch eine deutliche höhere Nachfrage, als es etwa vor der Corona-Pandemie der Fall war. Das und die in anderen europäischen Ländern ebenfalls gestiegene Nachfrage führen dazu, dass es derzeit bei den Unternehmen und in den Handelskanälen keinerlei Warenbestandspuffer gibt und die Produktionskapazitäten auch nicht ausreichen, um diese Bestände wieder aufzufüllen.
Waren die Engpässe absehbar?
Ja. Pro Generika hat die Politik schon lange auf mögliche Gefahren für die Versorgungssicherheit aufmerksam gemacht. Seit Jahren weist der Verband auf die desolate Lage der Antibiotika-Produktion in Deutschland und die große Abhängigkeit von Asien hin. Der jahrzehntelange Kostendruck besonders auf Antibiotika etwa für Kinder hat zu Abwanderung, Erosion und einer teils dramatischen Konzentration der Anbieter geführt.
So konnten die Hersteller angesichts dauerhaft niedriger Margen (für eine Packung Penicillin V mit 10 Tabletten erhält ein Hersteller weniger als 76 Cent) keine größeren Investitionen in diesem Bereich tätigen und wurden von staatlicher Seite auch nicht unterstützt. Hinzu kommt, dass die Nachwirkungen der Pandemie sowie der russische Krieg gegen die Ukraine die Lieferketten nach wie vor stressen und Verbrauchsmaterialien, Packmittel oder Rohstoffe weiterhin knapp sind.
Dazu sagt Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika:
„Die Knappheit bei Antibiotika und bei Kinderarzneimitteln offenbart ein Problem, das sich seit Jahren zuspitzt. Sie kamen mit Ansage und auch deswegen, weil die Politik bislang nicht reagiert hat.
Die Produktion von Antibiotika ist anspruchsvoll, das Erstattungsniveau seit vielen Jahren lächerlich niedrig. Hersteller erhalten oft nur ein paar Cent pro Tagestherapiedosis. In der Vergangenheit haben sich viele Hersteller aus der Versorgung zurückgezogen – einfach, weil die Produktion für sie nicht mehr wirtschaftlich ist.
Jetzt kommt eine extrem hohe Nachfrage dazu, die einer Welle von bakteriellen Infektionen geschuldet ist. Diese war für die Unternehmen nicht planbar und Hersteller versuchen derzeit nach Kräften sie zu bedienen, aber sie kommen nicht hinterher. Zumal es eben nicht mehr viele gibt, die überhaupt noch Antibiotika herstellen. Produktionserweiterungen oder gar der Aufbau von Produktionsanlagen benötigen im Normalfall Jahre. Maschinen und Anlagen müssen erworben und aufgebaut werden, Mitarbeiter:innen müssen gewonnen werden und zahlreiche behördliche Genehmigungen müssen vorliegen, bevor die Produktion überhaupt anlaufen kann.
Was tun die Hersteller, um die Nachfrage zu bedienen?
Die Hersteller versuchen seit Monaten nach Kräften die Bestellungen abzuarbeiten und wo immer möglich, die Produktion hochzufahren. Dabei stoßen sie an ihre Grenzen, zumal es bei einigen Wirkstoffen bloß noch einen einzigen Anbieter gibt und dieser allein die Nachfrage nicht bedienen kann. Zudem sind die Lieferketten für Rohstoffe und Verbrauchsmaterialien teilweise weiter fragil.
Inwiefern verschärfen die gestiegenen Energiepreise das Problem?
Die Produktion von Antibiotika (insbesondere die Fermentation) ist sehr rohstoff- und energieintensiv und hat sich – bei gleichbleibend niedrigen Erstattungspreisen – stark verteuert. So hat etwa die Sandoz-Produktionsstätte in Kundl (Österreich) einen Stromverbrauch, der dem der Stadt Innsbruck entspricht, und war zwischenzeitlich mit um das Zehnfache gestiegenen Energiekosten konfrontiert. Diese Belastung vergrößert derzeit den Wettbewerbsvorteil von Ländern wie China, wo Hersteller billigere und z.T. subventionierte Energie nutzen können, um ein Vielfaches.
Wird das Lieferengpass-Gesetz ALBVVG die Situation bei den Antibiotika entspannen?
Kurzfristig nicht. Dazu sagt Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika:
„Es muss jetzt vor allem darum gehen, die Patienten bestmöglich zu versorgen. Das ALBVVG legt fest, dass bei Ausschreibungen ein Teil der Antibiotika-Wirkstoffe fortan aus einer europäischen Quelle kommen soll. Das ist der Versuch, Lieferketten zu diversifizieren und Abhängigkeiten von Asien zu reduzieren – vorausgesetzt, es gibt überhaupt noch einen europäischen Hersteller für den Wirkstoff.
Es bleibt aber das strukturelle Problem, dass Hersteller sich zurückziehen, wenn die Produktion für sie wirtschaftlich nicht mehr darstellbar ist. Und das ALBVVG sieht weder Maßnahmen zur Entlastung der Hersteller vor, noch setzt es gesamthaft hinreichend Anreize, dass wieder mehr Hersteller in die Produktion in Europa einsteigen.“
Zwar gehe das ALBVVG mit Blick auf Antibiotika für Kinder einen ersten Schritt in die richtige Richtung, in dem es Festbeträge auflöse und Rabattverträge verbiete. Dennoch sei fraglich, ob diese Maßnahmen ausreichen werden, um strukturelle Marktveränderungen zu erzielen.
- Denn der Gesetzgeber entlastet die Hersteller, die unter höheren Kosten leiden und gleichzeitig ihre eigenen Preise nicht erhöhen können, aktuell nicht
- Das ALBVVG legt für Kinderarzneimittel eine Preiserhöhung um bis zu 50 Prozent fest. Das aber wird in vielen Fällen keinen ökonomisch ausreichenden Spielraum schaffen, den es bräuchte, um weitere Unternehmen zur Produktion zu animieren. Bei vielen Kinderarzneimittel erlaubt der neue Preis gerade einmal eine kostendeckende Produktion.
- Zudem kommen die z.T. gewährten Preiserhöhungsoptionen nicht voll bei den Herstellern an, da der Gesetzgeber es verpasst, auch Hersteller- und Generikarabatte für diese Arzneimittel abzuschalten
Was muss geschehen, damit sich das Problem der Antibiotika-Engpässe entschärft?
Damit Unternehmen das Risiko auf sich nehmen können, Produktionsanlagen aufwendig zu erweitern, brauchen sie Anreize. Anreize, die das ALBVVG ausschließlich für Antibiotika einführen will – und selbst dort reichen diese nicht aus.
Für engpassbedrohte Arzneimittel, bei denen es vor allem wegen des extremen Kostendrucks zu Engpässen kommt, weil Unternehmen sich aus der Produktion zurückziehen mussten, brauchen wir stabile und berechenbare Rahmenbedingungen.
Konkret muss es bei engpassgefährdeten Arzneimitteln einen auf fünf Jahre befristeten Verzicht auf Festbeträge und Rabatterträge geben, so dass Unternehmen verlässlich in den Ausbau von Produktion investieren können. Außerdem müssen die Rabattverträge aller Generika Diversifizierungskriterien enthalten. Diese finden sich bisland nur bei Antibiotika. Versorgungssicherheit muss Vorrang haben vor dem Wunsch von Krankenkassen nach immer noch höheren Rabatten.
Wann wird sich die Lage entspannen?
Eine saisonbedingte Entspannung der Lage dürfte sich erst in den kommenden Wochen/Monaten auch mit wärmeren Temperaturen einstellen.
Welche Konsequenz hat der Kostendruck auf Generika?
Die aktuellen Engpässe sind Folge eines jahrelangen Drucks auf Preise und Herstellkosten bei Generika. Seit Jahren stemmen Generikahersteller einen stetig wachsenden Anteil an der Versorgung – zu einem schrumpfenden Anteil der Kosten. Für knapp 80 Prozent der Versorgung erhalten sie bloß noch sieben Prozent der Summe, die die gesetzlichen Krankenkassen für Arzneimittel ausgeben.

Das hat zu starken Konzentrationseffekten auf mehreren Ebenen geführt.
- ABHÄNGIGKEIT VON ASIATISCHEN ZULIEFERERN: Zum einen ist durch die Abwanderung der Produktion eine massive Abhängigkeit von Asien entstanden. Rund zwei Drittel der hierzulande benötigten Arzneimittelwirkstoffe beziehen wir aus Ländern wie China und Indien. Dieses Klumpenrisiko könnte – z.B. mit Blick auf geopolitische Entwicklungen – ein Problem für unsere Arzneimittelversorgung werden.
- MARKTKONZENTRATION: Zum anderen sind immer mehr Hersteller auf allen Ebenen der Lieferkette aus der Versorgung ausgestiegen, weil die Produktion für sie zu den Preisen, die ihnen die Krankenkassen erstatten, wirtschaftlich nicht mehr darstellbar war.
Die Folge ist ein Rückgang der Herstellerzahl, der dramatische Folgen haben kann. Denn fällt ein Hersteller aus, werden die wenigen Verbliebenen meist im Nu leergekauft und können die ausgefallene Produktion nicht kompensieren. Das ist zuletzt geschehen bei Fiebersaft mit dem Wirkstoff Paracetamol und war auch mitursächlich für die Knappheit des Fiebersaftes mit dem Wirkstoff Ibuprofen.
Welche Wirkstoffe und Arzneimittel sind derzeit oft nicht lieferbar?
Lieferengpässe kommen in allen Arzneimittelbereichen vor. In letzter Zeit aber sind vor allem Krebsmittel, Antibiotika, Blutdrucksenker und Kinderarzneimittel knapp geworden. So gab es Anfang des Jahres Probleme, Brustkrebspatientinnen mit Tamoxifen zu versorgen. Jüngst wurde Amoxicillin, das etwa Kinder bei Lungen- oder Mittelohrentzündungen verschrieben bekommen, knapp. Und es gibt seit Monaten immer wieder Schwierigkeiten mit der Verfügbarkeit von Fiebersäften für Kinder. Die Liste mit den gemeldeten Lieferengpässen führt das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).
Warum kommt es zu Lieferengpässen bei Fiebersaft für Kinder?
Derzeit gibt es eine massiv gestiegene und für Unternehmen nicht planbare Nachfrage nach Fiebersäften. Die Anzahl der Bestellungen bei den Unternehmen ist seit dem Sommer bis zu achtmal so hoch wie sonst in diesen Monaten.
Die Lage wird verschärft durch Engpässe bei der Beschaffung von Material. Mal ist Glas für die Flaschen knapp, dann fehlt die Kartonage für die Verpackung. Mehrere Wochen gab es keine Verschlusskappen, dann fehlten wieder die Lastwagen, die die Ware ausliefern sollten. Hinzu kommt eine teils massive Personalknappheit.
Das eigentliche Problem aber hat sich über Jahre aufgebaut und ist von unserem Gesundheitssystem selbst verursacht: Da die Erstattungspreise für Fiebersäfte – wie für viele andere Generika auch – seit Jahren auf niedrigstem Niveau festzementiert sind, ist die Produktion für viele Hersteller nicht mehr wirtschaftlich. Immer mehr Generikaunternehmen haben sich deshalb aus der Versorgung zurückgezogen.
Diese Marktkonzentration sehen wir in besonders dramatischer Form bei den Paracetamol-Fiebersäften. Waren es vor zwölf Jahren noch 11 Anbieter, die den Markt versorgten, ist jetzt nur noch ein nennenswerter Anbieter übrig. Erst im Mai 2022 war der vorletzte Haupthersteller aus Wirtschaftlichkeitsgründen aus der Produktion von Fiebersaft ausgestiegen. Doch auch beim Fiebersaft mit dem Wirkstoff Ibuprofen gibt es bereits einen bedrohlichen Rückgang der Herstelleranzahl. Hier versorgt das Pharmaunternehmen Zentiva allein zwei Drittel des Marktes. Zum aktuellen Stand der eingeschränkten Verfügbarkeit von Paracetamol- und Ibuprofen-haltigen Fiebersäften für Kinder informiert das Bundesamt für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hier.
Wie viel erhalten die Hersteller für eine Flasche Fiebersaft?
Der Festbetrag ist die Summe, die die Krankenkassen für ein Arzneimittel erstatten. Ein Teil davon geht an die Hersteller.
Für die Flasche Paracetamol-Fiebersaft erhalten Hersteller seit zehn Jahren 1,36 Euro. Zum Januar 2023 wird der Festbetrag erstmals erhöht, so dass ein Unternehmen fortan 1,43 Euro pro Flasche erhält. Dazu Andreas Burkhardt, General Manager Teva Deutschland & Österreich und stellvertretender Vorsitzender von Pro Generika zu der Entwicklung bei Paracetamol-Säften: „Die Erhöhung bringt uns umgerechnet 7 Cent mehr pro Flasche – zu wenig um aus dem Minusgeschäft raus zu kommen. Es ist ein positives Signal, das Grundproblem aber bleibt.“
Um wirtschaftlich produzieren zu können, hat Teva nun den Preis über den Festbetrag erhöht. Burkhardt: „Das war kein leichter Schritt für uns, da die Patientinnen und Patienten jetzt Zuzahlungen leisten müssen.“
Für die Flasche Ibuprofen-Fiebersaft erhalten Hersteller weniger als 2 Euro von den Krankenkassen erstattet. Dieser Festbetrag wurde seit mehr als zehn Jahren nicht erhöht.
Warum sind derzeit gerade Kinderarzneimittel von Lieferengpässen betroffen?
Bei Kinderarzneimitteln ist der Kostendruck noch höher als bei anderen Generika. Denn diese haben in der Regel einen niedrigen Festbetrag. Das ist der Betrag, den Krankenkassen dem Hersteller erstatten – unabhängig davon, wie hoch seine Herstellkosten sind. Kinderarzneimitte sind aber in der Herstellung, zumindest wenn es sich um Säfte handelt, deutlich aufwändiger.
Das hat zweierlei Gründe:
Der unterschiedliche Aufwand, der bei der Herstellung der Darreichungsform entsteht – also ob es sich um eine Tablette oder Saft handelt – wird bei der Erstattung zu wenig berücksichtigt. Kinder bevorzugen Säfte. Und die sind deutlich aufwändiger zu produzieren und somit teurer in der Herstellung. Wer also ein Arzneimittel in Saft-Form herstellt, wird dafür mit Mehrkosten bestraft, die nur unzureichend erstattet werden.
Die Höhe des Festbetrags richtet sich maßgeblich auch nach der Menge des Wirkstoffs. Da Kinder eine geringere Menge an Wirkstoff erhalten, werden Kinderarzneimittel geringer vergütet.
Wie kam es zum Engpass beim Brustkrebsmittel Tamoxifen?
Bei Tamoxifen – einem Wirkstoff, der als sogenanntes Anti-Östrogen bei hormonrezeptorpositiven Brustkrebserkrankungen eingesetzt wird – ist es in den ersten Monaten des Jahres vermehrt zu Lieferengpässen gekommen.
Wichtige Zulieferer, bei denen ein großer Teil der betroffenen Unternehmen Ware bezogen haben, hatten ihre Preise spürbar erhöht, so dass es für Generikaunternehmen unter den gegebenen Erstattungsbedingungen wirtschaftlich nicht mehr darstellbar war, sich weiter an der Versorgung zu beteiligen. Alternative Zulieferer zu finden, war unter anderem deswegen nicht leicht, weil es nicht mehr genug von ihnen gab.
Auch auf Ebene der Arzneimittelhersteller zeigte sich eine oligopolistische Struktur. Waren es vor 15 Jahren noch weit mehr als ein Dutzend Hersteller gewesen, die den deutschen Markt mit Tamoxifen-Arzneimitteln versorgten, war deren Zahl der Unternehmen zum Zeitpunkt des Engpasses auf vier geschrumpft. Alle anderen hatten die Produktion in den vergangenen Jahren eingestellt. Es dauerte nicht lange, bis alle vier Unternehmen lieferunfähig waren.
Im Frühjahr 2022 gelang es trotzdem den Versorgungsengpass abzuwenden. Dafür sorgte zum einen eine Sondergenehmigung des Bundesgesundheitsministeriums, dass die Einfuhr tamoxifenhaltiger Arzneimittel gestattete. Zum anderen konnte der Hersteller Hexal eine Sonderproduktion Tamoxifen einschieben und das Problem damit – zumindest vorübergehen – zu lösen.
Hat sich die Lage bei Tamoxifen jetzt entspannt?
Derzeit gibt es genug Arzneimittel mit dem Wirkstoff Tamoxifen für alle Brustkrebspatientinnen in Deutschland. Die Marktkonzentration aber ist noch bedenklicher geworden als vorher.
Derzeit gibt es bloß noch zwei Unternehmen, die den Markt mit Tamoxifen versorgen – und von ihnen hat ein Unternehmen einen Marktanteil von vier Fünftel (Stand: Dezember 2022).
Übrigens ist das Preisniveau, das zu den Marktaustritten der Hersteller und Zulieferer geführt hat, noch dasselbe. Seit 2010 wurde der Festbetrag für den Hersteller nicht erhöht. Das heißt: Für die Dreimonatspackung Tamoxifen erhält ein Unternehmen seit nunmehr zwölf Jahren nur rund 8,80 Euro – und das, obwohl die Kosten seitdem massiv angestiegen sind.
Warum kommt es vor allem bei Antibiotika immer wieder zu Engpässen?
Die Produktion von Antibiotika ist anspruchsvoll, das Erstattungsniveau sehr niedrig. Hersteller erhalten oft nur ein paar Cent pro Tagestherapiedosis. In der Vergangenheit haben sich viele Hersteller aus der Versorgung zurückgezogen – einfach, weil die Produktion für sie nicht mehr wirtschaftlich ist. Bei vielen Antibiotika beobachten wir deswegen eine gefährliche Marktkonzentration. So gibt es für manche bloß noch einen oder zwei Anbieter. Hat dieser Produktionsprobleme, ist oft kein anderer da, der einspringen kann. Die Energiekrise verschärft das Problem derzeit noch, denn die Produktion von Antibiotika ist sehr energieaufwändig und hat sich – bei gleichbleibend niedrigen Erstattungspreisen – stark verteuert. Eine noch stärkere Marktverengung bei einzelnen Arzneimitteln könnte die Folge sein.
Was tun Generika-Unternehmen, um die Folgen der Engpässe abzuschwächen?
Tritt ein Engpass ein, arbeiten die Unternehmen mit Hochdruck daran, so schnell wie möglich wieder komplett lieferfähig zu sein. Wie im Falle der Fiebersäfte bauen sie, wo immer möglich die Produktion aus, um etwa den gestiegenen Bedarf zu decken. Engpässe in der Lieferkette versuchen sie zu überbrücken und sie bemühen sich, zusätzliche Transporte zu organisieren. Die so entstehenden Mehrkosten nehmen sie in Kauf, denn ihr Anspruch ist es, die Versorgung zu sichern.
Wird aber eine Produktion ausgebaut, hat das meist zur Folge, dass andere Arzneimittel nicht produziert werden können, da die Produktionsstraßen bis auf Monate hin voll ausgelastet sind. So war es etwa, als der Versorgungsengpass beim Brustkrebsmittel nur durch eine Sonderproduktion von Hexal abgewendet werden konnte.
Warum gibt es anderen Ländern weniger Engpässe als in Deutschland?
Tatsache ist, dass die Krankenkassen hierzulande für viele Arzneimittel weniger bezahlen, als sie kosten. Nur wenige europäische Länder bezahlen noch niedrigere Preise für Generika als Deutschland. Andere Staaten achten nicht nur darauf, dass die Versorgung möglichst billig ist – und haben infolgedessen auch weniger Engpässe.
Wann ist mit einer Entspannung der Lage in den Apotheken zu rechnen?
Das Ende der Engpässe ist derzeit nicht absehbar. Gerade bei Fieber- und Erkältungsmitteln und Antibiotika hängt viel davon ab, wie sich das Infektionsgeschehen gerade auch bei Atemwegserkrankungen in den kommenden Wochen entwickelt.
Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Zahl der Engpässe in den kommenden Monaten eher noch zunimmt. Denn die Inflation hat das Potenzial, die Engpassproblematik noch zu verschärfen.
Welche Rolle spielen die aktuellen Kostensteigerungen bei den Engpässen?
Wie viele andere Branchen auch, haben Generika-Unternehmen derzeit mit explodierenden Kosten zu kämpfen. Ob Wirkstoffe, Energie oder Transport – alles ist deutlich teurer geworden. Doch anders als andere Branchen, können Generika-Hersteller ihre Preise nicht anpassen. Sie bleiben auf den Mehrkosten sitzen und werden in den kommenden Monaten immer öfter Produktionen einstellen müssen, um Minusgeschäfte zu vermeiden. Wird es seitens der Politik keinen kurzfristigen Inflationsausgleich geben, sind weitere Marktaustritte zu erwarten, was die Gefahr weiterer Engpässe erhöht.
Warum können Generika-Hersteller die Preise nicht erhöhen?
Ein Netz aus Kostensparinstrumenten hält die Preise von Generika seit vielen Jahren im Keller.
- FESTBETRÄGE: Für die meisten Generika gibt es einen Festbetrag – das ist die maximale Summe, die die gesetzlichen Krankenkassen dem Hersteller gestatten. Hebt ein Hersteller seinen Preis über den Festbetrag an, müssen die Patient:innen die Differenz selbst bezahlen.
- PREISMORATORIUM: Ist für ein Generikum kein Festbetrag festgelegt, unterliegt es dem sogenannten Preismoratorium. Dies friert die Preise auf dem Niveau von 2009 ein, bzw. fixiert den Preis, mit dem das Arzneimittel zu einem späteren Zeitpunkt auf den Markt gekommen ist. Hebt nun der Unternehmer seinen Preis über die vom Preismoratorium festgelegte Preisgrenze an, muss er die Differenz als Rabatt an die Krankenkassen zurückzahlen.
- REGEL VON DEN VIER GÜNSTIGSTEN: Darüber hinaus gibt es – neben zusätzlichen gesetzlich vorgesehenen Rabatten — weitere Preisregulierungsmechanismen, die dafür sorgen, dass die Preise „im Keller“ bleiben. Eines davon ist die sogenannte 4‑G-Regel — juristisch gesehen eine untergesetzliche Regelung. Sie verpflichtet die Apotheken dazu, stets eines der vier günstigsten Präparate abzugeben, sofern es keinen Rabattvertrag gibt. Wer also hier nicht darunter fällt, wird nicht abgegeben.
- RABATTVERTRÄGE: Zu guter Letzt sind es die Rabattverträge, die das Preisniveau fixieren. Hier verpflichten sich die Hersteller im Rahmen von Ausschreibungen, ein bestimmtes Arzneimittel zwei Jahre lang zu einem vereinbarten Preis zu liefern. Da diese Ausschreibung derjenige gewinnt, der der Krankenkasse den höchsten Rabatt gewährt, ist dieser Preis meist sehr niedrig. Eine Anpassung nach oben – etwa wegen gestiegener Kosten – ist während eines laufenden Vertrages nicht möglich.
Besonders fatal: Diese Instrumente wirken meist im Zusammenspiel auf Generika ein. So unterliegen die allermeisten Generika sowohl einem Festbetrag als auch einem Rabattvertrag. Erhöht nun ein Hersteller seinen Preis, muss er diese Erhöhung direkt wieder an die Krankenkassen abführen. Denn mit der Preiserhöhung erhöht sich auch der Rabatt an die Krankenkasse – und der reale Preis bleibt weiterhin im Keller.
Ist die Abhängigkeit von Asien eine Ursache für die derzeitigen Engpässe?
Der jahrelange Kostendruck hat zu einer Abwanderung der Produktion generischer Wirkstoffe nach Asien geführt. Zwei Drittel der Wirkstoffe, die hierzulande benötigt werden, stammen mittlerweile aus Ländern wie China und Indien. Das hat zur Folge, dass sich die Lieferketten etwa generischer Blutdrucksenker oder Diabetesmittel über den gesamten Globus erstrecken.
Wie in anderen Branchen auch hat das gerade in Zeiten der Pandemie und des erschütterten Welthandels zur Folge, dass Lieferketten immer wieder unterbrochen sind. Hierbei ist es weniger problematisch, dass die Wirkstoffe aus Indien und China kommen als vielmehr, dass sie ausschließlich von dort kommen.
Dieses Klumpenrisiko ist Folge des Dogmas des günstigsten Preises, das Unternehmen jahrelang gezwungen hat, dort einzukaufen, wo es am billigsten ist, und dafür gesorgt hat, dass Lieferketten mit Blick auf die Versorgungssicherheit nicht angemessen diversifiziert werden konnten.
Mit Blick auf die aktuellen Engpässe aber lässt sich sagen: Knappheiten wie bei Fiebersaft oder Tamoxifen haben ihre Ursache darin, dass die Produktion für die Unternehmen nicht mehr wirtschaftlich war. Sie haben nichts mit der Abhängigkeit von Asien zu tun, sondern sind eine Folge des Spardrucks und somit hausgemacht.
Was sind mögliche Lösungsansätze, um zukünftige Lieferengpässe zu vermeiden?
Um die Versorgung zu stabilisieren ist es ist es vor allem notwendig, den jahrzehntelangen Kostendruck zu lockern. Denn er hat die Herstellung vieler Arzneimittel zum Verlustgeschäft werden lassen und zu einer massiven Abwanderung der Produktion. Für eine sichere Versorgung braucht es ein Preisniveau, das eine auskömmliche Produktion mit resilienten und diversifizierten Lieferketten gestattet und ein System, das es den Herstellern erlaubt, Kostensteigerungen abzufedern.
Ziel muss es sein, dass wieder mehr Hersteller in die Produktion einsteigen. Erst wenn genug Generika-Unternehmen an der Versorgung teilnehmen, kann das Ausscheiden eines Marktteilnehmers bzw. eine erhöhte Nachfrage auch vom Markt abgefangen werden.
Dafür aber braucht es Anreize und andere Rahmenbedingungen für die Generika-Versorgung. Diese zu ändern ist Aufgabe der Politik. Sie will im neuen Jahr ein Generika-Gesetz verabschieden, das die Ursachen für die Lieferengpässe bekämpfen will.
In diesem Gesetz muss es darum gehen, endlich weg vom Hauptsache-Billig-Prinzip bei Generika und hin zu einem System zu kommen, das Hersteller den Aufbau von resilienten Lieferketten und einer stabilen Produktion gestattet. Für 6 Cent am Tag – so wenig erhält ein Hersteller derzeit für die Tagesdosis eines Generikums – kann Versorgung zwar billig sein, nicht aber stabil genug, um Krisen wie die aktuelle abzufangen.
Wie bewertet Pro Generika die Eckpunkte, die Gesundheitsminister Lauterbach zum geplanten Generika-Gesetz vorgelegt hat?
Dazu sagt Pro Generika-Geschäftsführer Bork Bretthauer:
„Das Bundesgesundheitsministerium hat endlich erkannt, dass das Hauptsache-Billig-Prinzip bei Generika die Versorgung destabilisiert hat und zu Engpässen führt. Es ist gut, dass es jetzt gegensteuert und in einzelnen Bereichen den extremen Kostendruck lockern will. Damit geht es an die Wurzel des Problems. Das ist vor allem mit Blick auf die Kinderarzneimittel richtig, denn zuletzt war die Herstellung dieser Arzneimittel für die Unternehmen unwirtschaftlich geworden.
Richtig ist auch, dass das Gesundheitsministerium für mehr Diversifizierung der Anbieter und Lieferketten bei zunächst einigen Wirkstoffen sorgen will. Es hat erkannt, dass es keine Diversifizierung von Anbietern und Lieferketten geben kann, sofern nur ein einziger Hersteller in den Rabattverträgen berücksichtigt wird und die gesamte Versorgung sichern muss. Aus unserer Sicht sollten deshalb generell immer mehrere Hersteller einen Zuschlag bekommen. Zudem ist es wichtig, dass die aktuelle Steigerung der Herstellkosten in Rabattverträgen und im Festbetragssystem abgebildet werden.
Die heute bekannt gewordenen Eckpunkte sind der Startschuss zu einem mehrmonatigen Gesetzgebungsprozess. Der Spardruck der letzten Jahre hat jedoch massive strukturelle Spuren hinterlassen, die nicht über Nacht beseitigt werden können. Eine Steigerung der Produktion bzw. ein Ausbau von Produktionskapazitäten nimmt Monate und zum Teil sogar Jahre in Anspruch.
Daher ist jetzt kurzfristig wichtig, dass alle Akteure im Gesundheitssystem gemeinsam mit Verantwortungsbewusstsein und Pragmatismus zusammenarbeiten, um die Versorgung der Patientinnen und Patienten in Deutschland sicherzustellen.“
Wie bewertet Pro Generika die Aussetzung der Festbeträge von Kinderarzneimitteln durch den GKV-Spitzenverband?
Dazu sagt Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika:
„Eine Aussetzung der Festbeträge für Kinderarzneimittel, wie sie der GKV-Spitzenverband verfügt hat, ist eine Geste – aber sie wird das Problem der Engpässe kurzfristig nicht lösen. Denn: Woher sollen die Fiebersäfte plötzlich kommen?
Unsere Unternehmen produzieren derzeit rund um die Uhr. Es gibt keine Ware, die kurzfristig auf den Markt kommen könnte, nur weil sich der Preis für drei Monate erhöht. Kurzfristig ist für die letzten verbliebenen Hersteller keine Mehrproduktion möglich, so dass innerhalb weniger Monate keine Entspannung der Lage eintreten kann.
Deshalb reicht ein Aussetzen der Festbeträge nicht aus – schon gar nicht für ein paar Wochen. Wir brauchen langfristige Anreize für Unternehmen. Sie werden sich erst wieder an der Produktion von Kinderarzneimitteln beteiligen, wenn sie auch perspektivisch mit auskömmlichen Preisen rechnen können.
Außerdem muss klar sein: Die Lage kann sich nur verbessern, wenn Preiserhöhungen auch bei den Unternehmen ankommen. Und das tun sie nur, wenn auch andere, rein auf Kostensenkung abzielende Regelungen wie Rabattverträge oder 4‑G-Regel, ausgesetzt werden. Ansonsten werden die höheren Preise von den anderen Kostensparinstrumenten direkt wieder aufgefressen.
All das muss das vom Gesundheitsministerium angekündigte Gesetz berücksichtigen, sonst kann sich die Besorgnis erregende Situation bei Arzneimittelengpässen nicht entspannen.“

Während immer mehr Generika verordnet werden, sinkt ihr Anteil an den Kosten. Das steigert das Risiko für Lieferengpässe.
