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1,5 Mrd. Euro Mehr­kos­ten wegen EU-Abwasserrichtlinie?

Eine neue EU-Abwas­ser­richt­li­nie ver­teu­ert die Her­stel­lung von Met­formin dras­tisch. Mil­lio­nen Diabetes-Patient:innen droht der Ver­lust ihres wich­tigs­ten Medi­ka­ments. Die Fol­ge: teu­re­re Alter­na­ti­ven, teil­wei­se mehr Neben­wir­kun­gen – und eine Ver­sor­gung, die zu einer Kos­ten­ex­plo­si­on füh­ren könnte.

In Ankle­shwar, einem Ort im Wes­ten Indi­ens, lau­fen die Maschi­nen auf Hoch­tou­ren. Pil­len wer­den gestanzt, Blis­ter ver­packt, Palet­ten bela­den. Ins­ge­samt 5 Mil­lio­nen Packun­gen Met­formin gehen hier jedes Jahr vom Band — und sie alle haben nur ein Ziel: Deutsch­land. Die Pro­duk­ti­on in die­sem Werk, das dem tsche­chi­schen Gene­ri­ka-Rie­sen Zen­ti­va gehört, deckt den Groß­teil des Bedarfs des Arz­nei­mit­tels, das hier­zu­lan­de drei Mil­lio­nen Diabetes-Patient:innen ein­neh­men. Jeden Tag.

Met­formin gilt welt­weit als unver­zicht­bar. Es steht auf der WHO-Lis­te der essen­zi­el­len Arz­nei­mit­tel und ist für Dia­be­to­lo­gen so wich­tig, wie das Mehl für den Bäcker. „Met­formin ist ein essen­zi­el­les Medi­ka­ment, das eine pro­mi­nen­te Posi­ti­on in den Leit­li­ni­en zur Behand­lung des Typ-2-Dia­be­tes hat“, sagt Pro­fes­sor Dr. med. Bap­tist Gall­witz, Spre­cher der Deut­schen Dia­be­tes Gesell­schaft. „Es kann nicht ein­fach durch ande­re Medi­ka­men­ten­klas­sen ersetzt werden.“

Im indi­schen Ankle­shwar pro­du­ziert die Fir­ma Zen­ti­va Met­formin — das deckt 40 % des deut­schen Bedarfes.

Die­se Ver­sor­gung ist bedroht – durch eine EU-Richtlinie 

Auf Basis der soge­nann­ten „Kom­mu­na­len Abwas­ser­richt­li­nie“ (KARL) sol­len euro­päi­sche Klär­wer­ke mit einer vier­ten Rei­ni­gungs­stu­fe aus­ge­stat­tet wer­den, um Mikro­schad­stof­fe her­aus­zu­fil­tern – dar­un­ter auch Medi­ka­men­ten­res­te. Die Kos­ten dafür: etwa 1 Mil­li­ar­de Euro jähr­lich. Bezah­len sol­len das vor allem die Gene­ri­ka-Her­stel­ler, denn die Kos­ten­um­la­ge rich­tet sich nach Volu­men und Umwelt­to­xi­zi­tät der Wirkstoffe.

Für Met­formin bedeu­tet das: Die Pro­duk­ti­ons­kos­ten könn­ten sich um das 4,5‑Fache erhö­hen. Das wäre für Her­stel­ler wie Zen­ti­va wirt­schaft­lich nicht trag­bar. Geschäfts­füh­rer Josip Mestro­vic sagt: „Wenn das wirk­lich so kommt und sich nichts ändert, wer­den wir Met­formin vom Markt neh­men müssen.“

Teu­re Alter­na­ti­ven, schwer­wie­gen­de Folgen

Die Kon­se­quen­zen wären dra­ma­tisch. Met­formin ist nicht nur wirk­sam, son­dern auch ein­fach anzu­wen­den. Und extrem kos­ten­güns­tig: Für eine Tablet­te erhal­ten Her­stel­ler wie Zen­ti­va aktu­ell etwa 2 Cent – abzüg­lich Rabat­te blei­ben weni­ger als ein Cent pro Tablet­te übrig. Eine Preis­er­hö­hung ist aus­ge­schlos­sen, denn Arz­nei­mit­tel­prei­se sind in Deutsch­land gesetz­lich fixiert.

Fällt Met­formin weg, müss­ten Ärzt:innen auf Alter­na­ti­ven wie Sul­fo­nyl­harn­stof­fe, Gli­flo­zi­ne oder Insu­lin aus­wei­chen. Dies aber hät­te gra­vie­ren­de Fol­gen für die Patient:innen und die gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen, die DER SPIE­GEL in die­sem Arti­kel beleuchtet.

Für die Patient:innen bedeu­tet das: teil­wei­se mehr Neben­wir­kun­gen – und einen höhe­ren Auf­wand. Statt einer ein­fa­chen Tablet­te wäre häu­fig der Umstieg auf Insu­lin-Sprit­zen nötig.

Für das Gesund­heits­sys­tem bedeu­tet das: eine Kos­ten­ex­plo­si­on. Denn: Die Ver­sor­gung der rund drei Mil­lio­nen Patient:innen wür­de anstel­le von 350 Mil­lio­nen Euro plötz­lich 1,8 Mil­li­ar­den Euro kosten.

Und das ist Geld, das auf die Belas­tun­gen durch die Abwas­ser­richt­li­nie noch oben­drauf kommt.

Für Josip Mestro­vic, Gene­ral Mana­ger Zen­ti­va steht fest: Die Kom­mu­na­le Abwas­ser­richt­li­nie wird die Met­formin-Pro­duk­ti­on unwirt­schaft­lich machen 

„Health in all Polit­ci­es“ – Was Patient:innen wirk­lich brauchen

Für Mar­tin Dan­ner, Bun­des­ge­schäfts­füh­rer der BAG SELBST­HIL­FE, steht fest: Eine ver­ant­wor­tungs­vol­le Poli­tik muss bei­de Sei­ten im Blick haben. Er warnt:
„Eine gute Gesund­heits­ver­sor­gung kann poli­tisch nur erreicht wer­den, wenn der Grund­satz des ‚Health in all Poli­ci­es‘ auch kon­se­quent ver­folgt wird. Maß­nah­men zum Gewäs­ser­schutz dür­fen daher nicht ohne Rück­sicht auf die Aus­wir­kun­gen für das Gesund­heits­sys­tem getrof­fen wer­den. Aus Pati­en­ten­sicht ist eine Lösung des Pro­blems erfor­der­lich, die nicht die Arz­nei­mit­tel­ver­sor­gung gefährdet.“

Domi­no­ef­fekt mit Ansage

Schon heu­te zie­hen sich Gene­ri­ka-Her­stel­ler aus der Ver­sor­gung zurück, weil die wirt­schaft­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen nicht trag­fä­hig sind. Die neue Abwas­ser­richt­li­nie könn­te die­sen Trend mas­siv ver­stär­ken und einen “Tsu­na­mi an Eng­päs­sen” aus­lö­sen — wie DER SPIE­GEL bereits im Okto­ber 2024 berich­te­te. Zen­ti­va allei­ne pro­du­ziert fast 40 Pro­zent des in Deutsch­land benö­tig­ten Met­form­ins. Fällt Zen­ti­va weg, müss­ten ande­re Her­stel­ler ein­sprin­gen. Doch auch für sie wür­de der Kos­ten­an­teil stei­gen, so dass auch sie den Markt ver­las­sen müss­ten. Das Ergeb­nis wäre: ein flä­chen­de­cken­der Versorgungsengpass.

Vor Jah­ren wur­de Met­formin noch in Euro­pa pro­du­ziert — jetzt macht es Zen­ti­va in Indi­en. Aus Kostengründen.

Brüs­sel erkennt das Pro­blem – aber reicht das?

Das Euro­päi­sche Par­la­ment hat die­se Pro­ble­ma­tik inzwi­schen erkannt. Zwar wur­de die Richt­li­nie im Novem­ber 2024 ver­ab­schie­det, doch im Mai 2025 forder­te das Par­la­ment eine umfas­sen­de Neu­be­wer­tung der Aus­wir­kun­gen auf die Arz­nei­mit­tel­ver­sor­gung.

Bork Brett­hau­er, Geschäfts­füh­rer von Pro Gene­ri­ka, mahnt: „Das Par­la­ment hat ver­stan­den: Die Kom­mu­na­le Abwas­ser­richt­li­nie darf so nicht kom­men. Denn sie wird zu einem Tsu­na­mi an Eng­päs­sen füh­ren. Das umwelt­po­li­ti­sche Ziel des sau­be­ren Was­sers darf nicht auf Kos­ten der Ver­sor­gungs­si­cher­heit durch­ge­setzt werden.“

Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass es anders geht

Eine mög­li­che Lösung wäre das Schwei­zer Modell: Dort wird die Finan­zie­rung der vier­ten Rei­ni­gungs­stu­fe durch einen all­ge­mei­nen „Abwas­ser­pfen­nig“ gere­gelt – ein soli­da­ri­sches Sys­tem, das in Deutsch­land bei den bis­he­ri­gen Klär­stu­fen über die Abwas­ser­ge­büh­ren finan­ziert ist.

Eine sol­che Lösung könn­te die gesell­schafts­po­li­ti­schen Zie­le aus Umwelt- und Ver­sor­gungs­si­cher­heit mit­ein­an­der vereinen.

Im indi­schen Ankle­shwar lau­fen die Maschi­nen wei­ter. Doch wie lan­ge noch? Zen­ti­va muss­te bereits die Met­formin-Pro­duk­ti­on in Euro­pa auf­ge­ben, weil sich die Her­stel­lung nicht mehr rech­ne­te. „Die hohen Volu­mi­na, der gerin­ge Preis – das macht eine euro­päi­sche Pro­duk­ti­on unmög­lich“, sagt Mestro­vic. „Bei Lie­fer­ket­ten wie die­ser rech­nen wir in Cent-Bruchteilen.“

Genau die­ses fra­gi­le Sys­tem droht nun zu kip­pen – mit ver­hee­ren­den Fol­gen für die Patient:innen.

Güns­ti­ger als jedes Kaugummi

Die Ver­sor­gung von Dia­be­tes-Pati­en­ten ist in den letz­ten Jah­ren fra­gil geworden.
War­um reagiert die Poli­tik nicht?

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