Eine neue EU-Abwasserrichtlinie verteuert die Herstellung von Metformin drastisch. Millionen Diabetes-Patient:innen droht der Verlust ihres wichtigsten Medikaments. Die Folge: teurere Alternativen, teilweise mehr Nebenwirkungen – und eine Versorgung, die zu einer Kostenexplosion führen könnte.
In Ankleshwar, einem Ort im Westen Indiens, laufen die Maschinen auf Hochtouren. Pillen werden gestanzt, Blister verpackt, Paletten beladen. Insgesamt 5 Millionen Packungen Metformin gehen hier jedes Jahr vom Band — und sie alle haben nur ein Ziel: Deutschland. Die Produktion in diesem Werk, das dem tschechischen Generika-Riesen Zentiva gehört, deckt den Großteil des Bedarfs des Arzneimittels, das hierzulande drei Millionen Diabetes-Patient:innen einnehmen. Jeden Tag.
Metformin gilt weltweit als unverzichtbar. Es steht auf der WHO-Liste der essenziellen Arzneimittel und ist für Diabetologen so wichtig, wie das Mehl für den Bäcker. „Metformin ist ein essenzielles Medikament, das eine prominente Position in den Leitlinien zur Behandlung des Typ-2-Diabetes hat“, sagt Professor Dr. med. Baptist Gallwitz, Sprecher der Deutschen Diabetes Gesellschaft. „Es kann nicht einfach durch andere Medikamentenklassen ersetzt werden.“

Diese Versorgung ist bedroht – durch eine EU-Richtlinie
Auf Basis der sogenannten „Kommunalen Abwasserrichtlinie“ (KARL) sollen europäische Klärwerke mit einer vierten Reinigungsstufe ausgestattet werden, um Mikroschadstoffe herauszufiltern – darunter auch Medikamentenreste. Die Kosten dafür: etwa 1 Milliarde Euro jährlich. Bezahlen sollen das vor allem die Generika-Hersteller, denn die Kostenumlage richtet sich nach Volumen und Umwelttoxizität der Wirkstoffe.
Für Metformin bedeutet das: Die Produktionskosten könnten sich um das 4,5‑Fache erhöhen. Das wäre für Hersteller wie Zentiva wirtschaftlich nicht tragbar. Geschäftsführer Josip Mestrovic sagt: „Wenn das wirklich so kommt und sich nichts ändert, werden wir Metformin vom Markt nehmen müssen.“
Teure Alternativen, schwerwiegende Folgen
Die Konsequenzen wären dramatisch. Metformin ist nicht nur wirksam, sondern auch einfach anzuwenden. Und extrem kostengünstig: Für eine Tablette erhalten Hersteller wie Zentiva aktuell etwa 2 Cent – abzüglich Rabatte bleiben weniger als ein Cent pro Tablette übrig. Eine Preiserhöhung ist ausgeschlossen, denn Arzneimittelpreise sind in Deutschland gesetzlich fixiert.
Fällt Metformin weg, müssten Ärzt:innen auf Alternativen wie Sulfonylharnstoffe, Gliflozine oder Insulin ausweichen. Dies aber hätte gravierende Folgen für die Patient:innen und die gesetzlichen Krankenkassen, die DER SPIEGEL in diesem Artikel beleuchtet.
Für die Patient:innen bedeutet das: teilweise mehr Nebenwirkungen – und einen höheren Aufwand. Statt einer einfachen Tablette wäre häufig der Umstieg auf Insulin-Spritzen nötig.
Für das Gesundheitssystem bedeutet das: eine Kostenexplosion. Denn: Die Versorgung der rund drei Millionen Patient:innen würde anstelle von 350 Millionen Euro plötzlich 1,8 Milliarden Euro kosten.
Und das ist Geld, das auf die Belastungen durch die Abwasserrichtlinie noch obendrauf kommt.

„Health in all Politcies“ – Was Patient:innen wirklich brauchen
Für Martin Danner, Bundesgeschäftsführer der BAG SELBSTHILFE, steht fest: Eine verantwortungsvolle Politik muss beide Seiten im Blick haben. Er warnt:
„Eine gute Gesundheitsversorgung kann politisch nur erreicht werden, wenn der Grundsatz des ‚Health in all Policies‘ auch konsequent verfolgt wird. Maßnahmen zum Gewässerschutz dürfen daher nicht ohne Rücksicht auf die Auswirkungen für das Gesundheitssystem getroffen werden. Aus Patientensicht ist eine Lösung des Problems erforderlich, die nicht die Arzneimittelversorgung gefährdet.“
Dominoeffekt mit Ansage
Schon heute ziehen sich Generika-Hersteller aus der Versorgung zurück, weil die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht tragfähig sind. Die neue Abwasserrichtlinie könnte diesen Trend massiv verstärken und einen “Tsunami an Engpässen” auslösen — wie DER SPIEGEL bereits im Oktober 2024 berichtete. Zentiva alleine produziert fast 40 Prozent des in Deutschland benötigten Metformins. Fällt Zentiva weg, müssten andere Hersteller einspringen. Doch auch für sie würde der Kostenanteil steigen, so dass auch sie den Markt verlassen müssten. Das Ergebnis wäre: ein flächendeckender Versorgungsengpass.

Brüssel erkennt das Problem – aber reicht das?
Das Europäische Parlament hat diese Problematik inzwischen erkannt. Zwar wurde die Richtlinie im November 2024 verabschiedet, doch im Mai 2025 forderte das Parlament eine umfassende Neubewertung der Auswirkungen auf die Arzneimittelversorgung.
Bork Bretthauer, Geschäftsführer von Pro Generika, mahnt: „Das Parlament hat verstanden: Die Kommunale Abwasserrichtlinie darf so nicht kommen. Denn sie wird zu einem Tsunami an Engpässen führen. Das umweltpolitische Ziel des sauberen Wassers darf nicht auf Kosten der Versorgungssicherheit durchgesetzt werden.“
Ein Blick in die Schweiz zeigt, dass es anders geht
Eine mögliche Lösung wäre das Schweizer Modell: Dort wird die Finanzierung der vierten Reinigungsstufe durch einen allgemeinen „Abwasserpfennig“ geregelt – ein solidarisches System, das in Deutschland bei den bisherigen Klärstufen über die Abwassergebühren finanziert ist.
Eine solche Lösung könnte die gesellschaftspolitischen Ziele aus Umwelt- und Versorgungssicherheit miteinander vereinen.
Im indischen Ankleshwar laufen die Maschinen weiter. Doch wie lange noch? Zentiva musste bereits die Metformin-Produktion in Europa aufgeben, weil sich die Herstellung nicht mehr rechnete. „Die hohen Volumina, der geringe Preis – das macht eine europäische Produktion unmöglich“, sagt Mestrovic. „Bei Lieferketten wie dieser rechnen wir in Cent-Bruchteilen.“
Genau dieses fragile System droht nun zu kippen – mit verheerenden Folgen für die Patient:innen.